Dromi - Von Wegen
von Klaus Thomas
Der
Bus hinauf in das Bergdorf Anopolis geht erst in vier Stunden. Unser
Trampversuch ist nach kurzer Zeit erfolgreich. Ein deutsches
Paar, das Pauschalurlaub an der Nordküste macht, nimmt uns mit. Sie wohnen in einem Hotel
in "Djórgopóli", wie er sagt. Heute sind sie mit
einem Mietwagen dabei den Süden zu erkunden. Sie wollen das Auto
zwei Kilometer hinter Anopolis an der Brücke stehenlassen, von dort hinuntersteigen und die Schlucht durchwandern, bis zum meerseitigen Ausgang und wieder zurück.
Der Ort Chora Sfakion wird
meist Sfakiá genannt, nach der ganzen Region. Trotz seiner
Randlage hat er tatsächlich zentrale Bedeutung. Als einziger Hafen
der Sfakiá mit Strassenanschluss ist er der Verkehrsknoten, Umladeplatz
für Waren und Reisende.
Von hier sind es nur wenige Kilometer Luftlinie bis nach Anopolis, jedoch sind sechshundert
Höhenmeter zu überwinden. Schleife um Schleife schraubt sich
die
Serpentinenpiste hinauf. Angemessen langsam aber mit erheblichem
Lenkaufwand folgt unser Fahrer dem mäandernden Asphaltband. Von
Aussenkurve zu Aussenkurve wird der Blick gewaltiger. Im Osten
ist schon die gesamte Küstenlinie bis zum sechzig Kilometer
entfernten Asteroussia-Gebirge zu erkennen.
Nach einem langen Jahr bin ich endlich wieder auf Kreta. Diese atemberaubende Aussicht findet Widerhall in Bildern der
Erinnerung und dennoch wühlt sie so wunderbar meine Seele auf, als erlebte ich diesen Blick zum erstenmal.
Im Süden die Felsen von Gavdos, dahinter, bis zum Horizont, tiefblaues Meer. Ob man wohl von den Gipfeln der Lefka Ori
bei guter Sicht bis Libyen gucken kann?
Wir erreichen die ersten Häuser der Streusiedlung Anopolis. Sie
erstreckt sich zwei Kilometer entlang der Straße, die ein
Hochplateau quert. Das Dorf hält gerade Mittagsruhe. Auch kein Ausländer ist zu sehen. Am
ehesten
kann der Platz vor der Statue des Freiheitskämpfers Daskalojannis
als Dorfzentrum gelten. Dankend lassen wir uns hier von unseren hilfsbereiten
Mitnehmern absetzen.
Gleich gehe ich hinüber zu dem kleinen, einladenden Hotel jenseits
des Platzes. Zunächst halte ich das "Ochi!" für einen Scherz,
mit dem die Vermieterin meine Quartiernachfrage beantwortet, haben wir
doch in unserer Vorstellung schon eins der offensichtlich leeren
Zimmer bezogen und entspannt auf einem der Balkone sitzend das
Bergpanorama auf uns wirken lassen.
Eine Vision, die sich nicht realisieren lässt. Freundlich wird uns
erklärt, dass sämtliche Betten von einer heute abend
eintreffenden Wandergruppe vorgebucht wurden. Es scheint für
manche
attraktiv zu sein, das grossdimensioniert organisierte Besteigen des
umliegenden Lefka-Ori-Massivs vom Basislager Anopolis aus. Da sind die
Übernachtungskapazitäten schnell erschöpft.
Im übrigen
sind wir die einzigen Ausländer im Dorf. Allerdings wird
allmählich klar, dass bereits jetzt, Mitte
September, die Saison weitgehend als beendet gilt und der
Zimmervermietungsbetrieb für dieses Jahr eingestellt wurde. So
haben wir gleich mal Gelegenheit uns mit dem Ort und einigen
Bewohnern näher bekanntzumachen. Etliche Nachfragen später
und in reichlicher Entfernung zum Dorfzentrum erbarmt sich schliesslich
eine Pensionswirtin unser und
macht uns ausnahmsweise ein Zimmer zurecht.
Am nächsten Tag folgen wir einem vor Generationen angelegten Fussweg(Kalderimi) zur unterhalb Anopolis liegenden Küste.
Im Winterregen abgerutschtes Geröll macht das Laufen
abschnittsweise sehr mühsam. Die Laufrichtung im Blick, gilt es
auch sehr genau jeweils die Trittstelle zu prüfen. Leicht kann
Schotter ins Rutschen kommen, grössere Steine unter dem
Körpergewicht kippeln. Ebenes festes Auftreten verhindert
Verstauchungenen.
"Mehr noch als der Schuh ist der Kopf für die
Stabilisierung des Fusses verantwortlich" hat uns ein Schäfer
gelehrt. Zweifel an dieser Aussage waren restlos beseitigt, als wir ihn
kurze Zeit später in Sandalen durch derartiges Terrain querfeldein mit
Jogging-Geschwindigkeit rennen sahen: Konzentriert die eher kurzen
Schritte setzend, dazwischen die Füsse hoch anhebend, um
Anstösse zu vermeiden. Eine mentale Übung, wie er sagt.
Obwohl gut beschuht und langsam schreitend ist auch unsere ganze
Konzentration gefordert. Häufig legen wir eine Pause ein, nehmen
im Schatten eines Baumes Platz. Weit unten im Tiefblau zeichnet
unhörbar ein Kaiki seine schnurgerade weisse Kiellinie.
Und dort drüben: Wie
elegant erhaben lässt sich ein Geier vom Aufwind der Schlucht
tragen? Mit weit ausgebreiteten Schwingen, bewegungslos segelfliegend
beschreibt er einen Riesenkreis. Er entfernt sich nach Westen, nein er
dreht, kommt schwebend näher. Über uns in grosser Höhe
zwar, erkennen wir doch einzelne an den Flügelspitzen abgespreizte
Federn.
Am frühen Nachmittag kühlen
wir endlich unsere heissgelaufenen Körper im Meer. Wir sind in einer dieser kleinen
Buchten die nur per Boot oder zu Fuss zu erreichen sind, so
typisch für die Sfakiá, dieser wilden, ans Libysche Meer
grenzenden Gebirgsregion. Dennoch haben es die Grundeigentümer
geschafft hier unten ein Häuschen zu bauen, möglicherweise
nicht nur logistischen sondern auch gesetzlichen Widerständen
zum Trotz. Vrachos ist ein etwa hundert Meter langer beidseitig
von Steilküste eingeschlossener Kieselstrand. Die Grossfamilie,
Betreiber einer Taverne mit Zimmervermietung, wohnt hier
ganzjährig.
Vergeblich versichern wir uns gegenseitig, dass es die Idylle nicht gibt, umfasst sie uns doch gerade wahrhaftig.
Plötzlich müssen wir uns sputen, dass wir den Aufstieg
zurück nach Anopolis noch vor Einbruch der Nacht schaffen. Beim
Davonstapfen bemerken wir, dass hinter dem Haus eine löchrige
Staubpiste beginnt. Sollte unsere Idylle, wenn auch nur mit
Spezialausstattung und über Umwege, mittlerweile doch per Fahrzeug
zu erreichen sein?
Es dämmert bereits. Kurz vor Anopolis möchten zwei deutsche
Spaziergängerinnen von uns wissen, 'was denn da unten so interessant
sei ...' , wo wir herkommen. Die Euphorie unseres Erzählens von der
grossartigen Wanderung und der idyllischen Bucht Vrachos strahlt nicht recht auf sie aus. Eher befremdet scheinen
sie sich zu fragen, warum da
welche einen ganzen Tag mit körperlicher Anstrengung vergeuden, um
im Nirgendwo 'ne Tasse Kaffee zu trinken. Sie müssen jetzt mit
Ihrem Mietwagen zurück in ihr Hotel nach "Georgupúlli", wie
sie sagen, damit sie das Abendbuffet nicht verpassen.
Unser Abendessen nehmen wir in der Taverne Lefkos: Leckere Mesedes und ausgezeichnete Lammkoteletts.
Wir beschliessen, in Kürze nach Vrachos umzuziehen,
um dort unserern weiteren Urlaub zu verbringen. Das dafür vorgesehene Prozedere sieht vor: 7 Uhr
morgens mit dem Anopolis-Schulbus zum Hafenort Sfakiá; dort bis
zum Mittag auf das
Versorgungsschiff warten, das jedenfalls die grösseren Sfakiá-Orte
täglich anfährt und mit dem man zu einem Fischerdorf
gelangt, etwa einen Stundenmarsch von Vrachos entfernt.
Der
Marsch erübrigt sich, da man vom Sohn der
Wirtsfamilie mit Aussenborderboot abgeholt wird.
Beim Essen kommen wir mit Jannis ins Gespräch, der am
Nachbartisch sitzt. Wir befragen ihn zur Strassenanbindung von Vrachos.
Kaum zu glauben: Einen Geeigneteren hätten wir nicht finden
können. Jannis ist mit seinem Geländefahrzeug für die
tägliche Zubringung der Kinder von Vrachos zum Anopolis-Schulbus
zuständig. Über eine verschlungene Holperpiste fährt er
also frühmorgens leer runter um die Schüler zu holen. Als er
hört, dass wir nach Vrachos umziehen wollen, bietet er
sofort an uns dabei mitzunehmen. Diese Woche hat er nur eine Schülerin ,
also genug Platz im Auto, so dass wir, wenn wir wollten, auch
mittags beim Zurückbringen mitfahren könnten. Unser verlegenes Zögern,
ob dieses ebenso überraschenden wie perfekten Angebots, duldet Jannis nicht.
Selbstverständlich werden wir mit ihm kommen, bekräftigt er,
wann immer wir wollen. 
Wir entscheiden uns für die Mittagsvariante des übernächsten Tages.
Eine Viertelstunde nachdem wir beobachtet haben, wie der Schulbus aus Sfakiá die Serpentinen
heraufgekrochen ist, hupt Jannis mit
seinem Pickup vor unserem Quartier. Schnell ist das Gepäck auf die
Ladefläche gehoben. Auch wir wollen aufsteigen, doch Jannis
besteht
darauf, dass wir in der Fahrerkabine platznehmen sollen, da die Piste
zu holprig
sei. Überrascht erkennen wir, dass sein hochbeiniger
Geländewagen einen bequemen
fünfsitzigen Innenraum bietet. Wir begrüssen Jannis' einzige
Passagierin, Maria. Sie besucht eine Schule in Chaniá . Nachdem sie also
allmorgendlich von Jannis hochgefahren wird, geht es mit dem Schulbus
wieder runter nach Sfakiá, um dann nach anderthalbstündiger
Überquerung der Lefka Ori in Süd-Nord-Richtung ihren Schulort
auf der gegenüberliegenden Seite Kretas zu erreichen. Am Mittag
das ganze retour macht vier Stunden Berg- und Talfahrt täglich.
"Früher
mussten wir mehrere Kilometer Schulweg zu Fuß bewältigen
..." gibt Jannis zu bedenken " ... weiterführende Schulen in der
Stadt konnten gar nicht besucht werden."
Wie genussreich unsere Wanderung nach Vrachos für uns auch war,
wir haben keine Zweifel: Diesen Weg als Kind täglich zur Schule
gehen zu müssen auch im Winter und bei schlechtem Wetter ist so
vergnüglich nicht.
Froh, diesmal bequem gefahren zu werden, sind wir doch erstaunt,
wie fremdartig diesselbe Landschaft aus der Autofensterperspektive
wirkt, eine flüchtige Ahnung nur der Faszination des Panoramas.
Wiederholt wehrt Jannis ab. Es sei schliesslich sein Job für den er ohnehin bezahlt wird. Dann freut er
sich doch sehr über das Fahrgeld, das wir ihm zum Abschied
in die Hand drücken.
"Wie war's heute in der Schule?" werden wir lachend von der Wirtsfamilie in Vrachos begrüsst. 
Margit und ich nehmen auf der Strandterrasse Platz. Mein Blick schwenkt vom hohen
Felsen zum weiten Meer. Tiefe Zufriedenheit durchströmt Brust und
Bauch. Sprachunfähig tauschen wir wässrige Blicke aus und
erkennen, dass wir gerade beide von überwältigendem
Glücksgefühl angerührt sind.
© Klaus Thomas 2008
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