Eftichía - plänescheuendes Glück
von Klaus Thomas
Diese vier Stunden bis
zum Weiterflug nach Iraklion müßten sich doch
gemütlicher verbringen lassen, als im Flughafengebäude von
Thessaloniki. Wir treten hinaus. Eine für März
überraschend warme Brise streift das Gesicht, genau wie eben nach
Öffnen der Flugzeugluke. Endlich wieder ein Hauch von Hellas auf
der Haut und in der Nase. Der typisch würzige Griechenlandgeruch
läßt sich nicht von Kerosinspuren verdecken. Unsere Sinne
werden von der griechischen Seele begrüßt und erwidern:
„Kalos se vrika - wir freuen uns dich wiedergefunden zu
haben!“
Der deutsche Winter ist vergessen; vergessen auch die eintägige
Verschiebung des Fluges. Am Abend vor dem geplanten Abreisetag die
lapidare Nachricht, daß wegen Streiks in Athen „morgen gar
nichts geht“. Der freundliche Reisebüromitarbeiter schaffte
eine Umbuchung auf den folgenden Tag. Allerdings Ankunft in Iraklion
erst spätabends wegen stundenlangem Aufenthalts in Thessaloniki,
statt kurzem Stopover in Athen.
Ti na kanoume? - Was soll´s? Wir
werden´s trotzdem genießen; genau wie gestern unseren
ersten Urlaubstag, den wir ungeplant doch noch im winterlichen Berlin
verbrachten.
Der häßliche
Flughafenzubringer weist in Richtung einer dorfähnlichen
Häuseransammlung am Hügel, die uns verführerisch
zuflüstert. Dort könnte als Belohnung für den
erforderlichen Fußmarsch ein lauschiges Plätzchen warten.
Doch nach weinigen hundert Metern endet der fahrbahnbegleitende
Gehweg. Wir haben keine Meinung zur Umkehr und drücken uns weiter
neben der Schnellstraße entlang.
Nur noch bis zur nächsten Kurve.
Wie so oft lockt sie, diese subversive Mischung aus Neugier und
Hoffnung, die das Weitergehen dem Umkehren vorzieht. Sie treibt
bisweilen in absurde, wenn nicht gefährliche Lagen,
ermöglicht aber auch überraschende Entdeckungen. Nach der
Kurve wird klar, daß es sich bei der lockenden
„dorfähnlichen“ Struktur eher um eine Ansammlung von
derzeit unbewohnten Wochenendhäusern handelt und im Übrigen
weiter entfernt ist als gedacht.
Aber was sind das für
Gebäude an der beampelten Kreuzung voraus? Die hundert Meter noch
schieben wir uns hinter der Leitplanke entlang. An der kreuzenden
Hauptstraße verblüfft eine Bushaltestellenmarkierung. Nicht
mutlos wie Robert Scott am Südpol, sondern hoffnugsvoll macht uns
die Erkenntnis: „Es war schon jemand vor uns da!“
Hier gibt
es Busverkehr? Doch wer will in dieser Fußgängerödnis
jemals ein- oder aussteigen? Gleich das erste der Gewerbegebäude
jenseits der Kreuzung ist eine Daimler-Benz-Niederlassung. Jedenfalls
dort müsste jemand ortskundige Auskunft geben können.
Allerdings dient die Ampel nur der Regulierung des Fahrzeugverkehrs. Es
gibt keinen Fußgängerüberweg. Margit bleibt mit
Gepäck an der Haltestelle, während meine Mission die Querung
der verkehrsreichen Schnellstraße ist: Rotphase abwarten, schnell
Leitplanke überwinden und über die Gefahrbahn huschen. Bevor
die von der Ampel kurz gebändigten Motorbestien vorstürmen,
rette ich mich über die Leitplanke auf dem schmalen
Mittelstreifen. Hier die nächste Rotphase abwarten ohne zu tief
durchzuatmen, dritte Leitplanke (ist doch keine Hürde mehr), die
Gegenrichtungsfahrbahn queren durch schnelles Durchschlüpfen
zwischen den Stoßstangen der ungeduldig Wartenden. Aus der
Nähe wirken sie gar nicht so bedrohlich. Schließlich
besondere Vorsicht auf der ampelfreien Rechtsabbiegerspur,
Zielleitplanke, geschafft!
Als sich die Glastür
selbsttätig öffnet, ist plötzlich die Trennung zwischen
griechischer Außenwelt und klimatisierter, global gleichgemachter
Daimler-Wertigkeit aufgehoben. Wie wunderbar absurd. Hier drinnen in
dieser Kühle werde ich mir meiner Touri-Erscheinung bewußt.
Verschwitztes T-Shirt, halblange Schlabberhose, weiße Beine,
Sandalen. Meine ausgeblichene Stoffmütze verschwindet
unauffällig in der Hosentasche. Ich bewege mich auf dem gediegenem
Teppichboden zögerlich in Richtung zweier
geschäftsmäßig wirkender Anzugträger. Freundlich
wird mir Hilfe angeboten. Stirnrunzelnd versucht man
meine Frage zu verstehen, ob vielleicht ein Dorf in der Nähe
wäre, wo wir gemütlich ’ne Tasse Kaffee trinken
könnten. Sie haben genug Erfahrung mit durchgeknallten Touristen
um sich nichts anmerken zu lassen und in Ruhe die Absicht des Fremden
zu ergründen.
Einer von beiden hat „Kaffee
trinken“ verstanden. Ihre Mienen erhellen sich. „Ja,
natürlich!“ Ich möge doch dort Platz nehmen, bedeutet
er mir einladend. Kaffee würde gebracht. Tatsächlich erkenne
ich im hinteren Bereich des Verkaufsraumes eine bistroähnliche
Möblierung. Unglaublich, die Einladung ist wirklich ernst gemeint.
Ich male mir nicht weiter aus, welchen Verlauf ein derartiges
Zusammentreffen in einem deutschen Autohaus genommen hätte. Ich
überwinde meine Sprachlosigkeit. Mit dem Hinweis, wir würden
vielleicht auch ’ne Kleinigkeit essen wollen, versuche ich meine
dankende Ablehnung zu begründen. Ich hoffe, daß sie jetzt
nicht noch ein Speise- Angebot nachlegen und wiederhole: „Kleines
Dorf in der Nähe. Vielleicht mit gemütlichem Kafenion an der
Plateia?“ Nach kurzem Nachdenken bekomme ich einen Namen genannt,
den sie mir sicherheitshalber aufschreiben:
„Peiraía“. Ca. 7 Kilometer, immer dort der
Straße entlang.
Nach herzlichem Dank an die
freundlichen Tippgeber, verkneife ich mir die Zusatzfrage nach einer
Busverbindung. Aber vielleicht hätte es sie auch nicht weiter
irritiert, daß der Spinner nun auch noch nichtmotorisiert
hiehergelangt ist. Ich verabschiede mich und trete durch die
Automatiktür zurück in die angenehm frühlingswarme
Außenwelt. Margit befindet sich mit dem Gepäck
erfreulicherweise auf der richtigen Straßenseite. Auch dank
der auf dem Hinweg gesammelten Erfahrung gelingt mir die
Straßenrücküberquerung zum Basislager unbeschadet.
Wir bekommen Gesellschaft von einer
jungen Frau, die offensichtlich auch beabsichtigt den Bus zu nehmen.
Die Frage ignorierend, welches Schicksal sie hierher verschlagen haben
könnte, schöpfen wir Hoffnung, daß diese Haltestelle
tatsächlich bedient wird. Auch kann die Dame uns erfreuliche
Auskunft geben: „Nach Peraía fährt der 72er
Bus...“ erklärt sie kompetent „ ... in etwa 10
Minuten“. Wenig später nähert sich tatsächlich ein
Bus und hält. „Nein! wir müßten auf den
nächsten warten“ wehrt sie unseren Einsteigversuch ab und
zieht es vor ohne uns zu fahren.
Wie wahrscheinlich ist es in dieser
fußgängerarmen Gegend, daß innerhalb weniger Minuten
zwei Busse halten? Bevor wir lange darüber sinnieren können,
wider dem Anschein hier zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein,
hält der 72er. Und auch das noch: Der Busfahrer bestätigt,
daß Peraía auf seiner Route liegt.
Es geht in westlicher Richtung die
Küste entlang. Vorbei an Orten, die jedenfalls durchs Busfenster
ungastlich wirken. Abweisende Gewerbebauten, KFZ-Werkstätten,
Kleinfabriken für Fenster, Türen, Möbel.
Dazwischen unstimmige Tafeln zur Werbung international bekannter
Konsumgüter. Ein Baubedarfshandel mit einer beeindruckender Menge
aneinandergereihter Betonmischmaschinen im Angebot. Ein Supermarkt
läßt immerhin vermuten, daß in der Umgebung ein
Wohngebiet liegt. Diese Orte gönnen einem nicht die Mitnahme des
kleinsten freudigen Gefühls. Jedenfalls nicht dem
oberflächlichen Umgehungsstraßen-Vorbeifahrer. Wir zweifeln:
„Hätten wir unseren Kaffee nicht doch besser in der
Flughafenwartehalle trinken sollen?“
Schließlich erreichen wir
Peraía. Also aussteigen. Mutlos laufen wir Richtung Wasser.
Zweifelnd bemühen wir die Erinnerung an wiederholt Erfahrenes:
Manchmal versteckt sich das Schöne hinter dem
Häßlichen. Man muß dem Glück nur Gelegenheit
geben uns zu finden. Wir nähern uns einem Wohngebiet.
Vorgartenästhetik. Immerhin Atmosphäre. Wir atmen durch. Eine
Taverne, wenn auch geschlossen. Hier gibt es Menschen.
Drei Minuten später
umfließt goldgelb feiner Sand unsere Zehen. Wir schweben zu einem
- im Wortsinn - Strandkafenion. Im Sand plazierte Polstersessel
an Sofatischchen. Das kann man nicht erträumen. Algiger
Meeresgeruch zieht in die Nase. Die Wasserkante züngelt
unermüdlich leise zischelnd den Sand. Dieser läßt sich
bis zu einer klar gezogenen Grenze nur befeuchten. Welch wunderbar
blendend weiße Helligkeit. Griechenland stimmt all unsere Sinne
ein. Der vom Stadtwinter eingeengte Blick weitet sich befreit bis zum
Horizont. Tränenfeuchte ob dieser schwer erträglichen
Intensität. Tief empfundenes Bei-uns-sein. Genießend lassen
wir uns ungesteuert in dieses Zeitloch zwischen Vorher und Nachher
fallen.
Der Kellner bringt eine Flasche
Mineralwasser und zwei Gläser. Unseren Hinweis noch nichts
bestellt zu haben kontert er mit „Apo spiti“ (vom Haus).
Tatsächlich entdecken wir auf jedem besetzten Tisch so eine offene
Flasche. Kostenlos gereichtes Leitungswasser, eine gute griechische
Tradition. Vielerorts abgeschafft, da häufig von Touristen
verschmäht.
Die Seele hat unerhofft das
Glück zu Gast. Es läßt sich nicht einladen, schon gar
nicht einplanen dieses scheue Kind der Gelassenheit und des Zufalls. Es
kommt und geht nach eigenem Willen, manchmal gar ohne erkannt zu
werden, kann Strukturen schwer ertragen und liebt die Planlosigkeit.
Schon der Versuch es festzuhalten wird es verscheuchen.
Selber schuld,
daß wir auf die Uhr schauen: Schon so spät? Zeit zum
Flughafen zurückzufahren. Auf dem Weg zum Taxi wundern wir uns
über die Faszination, die eben noch dieser Ort auf uns
ausübte. In diesem Thessaloniki-Naherholungsgebiet würden wir
unseren Urlaub nicht verbringen wollen.
Der Taxifahrer schätzt vorab die
Fahrtkosten auf 10 Euro, was wir beschließen für angemessen
zu halten. Maßgeblich ist, wie er sagt, das Taxameter. Das weist
bei Ankunft vor dem Flughafengebäude 7 Euro 50. Stolz freut er
sich über seine, wie er sagt, exakte Schätzung: „Genau
10 Euro!“ Ich deute auf seine Taxiuhr: „aber da steht 7
Euro 50“. „ Das schon ...“ kontert er blitzschnell
und einfallsreich „ .. aber da kommen natürlich 2 Euro 50
Flughafenzuschlag drauf - ob wir das denn nicht
wüßten?“ Wußten wir nicht und denken, daß
er es eben auch noch nicht wußte. Immerhin waren 10 Euro
vereinbart, die ich ihm schmunzelnd überreiche.
Vielleicht ist es Flughafenzuschlag,
vielleicht seine „Poniriá“, eine schlitzohrige
Schlauheit, die auch ihre Belohnung verdient. Das belegt in
unseren Taxifahrer-Kuriositäten-Charts auf Anhieb einen der
vorderen Ränge.
Eben ist der kleine
fünfzigsitzige Flieger mit uns an Bord Richtung Kreta gestartet.
Mittlerweile liegt Nacht über der Bucht von Thessaloniki. Wir
meinen die Lichter von Pereía zu erkennen. Wie wunderbar waren
die überraschenden Kleinigkeiten der ersten griechischen Stunden;
wie weit entfernt jetzt schon die „Wichtigkeiten“ deutschen
Alltags.
© Klaus Thomas 2005
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