Ithaka-Variation
von Klaus Thomas
Vor beinahe hundert Jahren konnte Konstatinos
Kavafis nicht ahnen, dass die heutige Tourismusindustrie mich Reisenden mein Ziel
im Handumdrehen erreichen lässt. Seinen
Rat "wünsch dir eine lange Fahrt" kann ich nicht durch
Inselspringen, die selbstgewählte Ziellosigkeit, befolgen.
Vielmehr steht die Odysseus-Metapher für Sinnsuche. Neben
dem Sinn des Lebens im Allgemeinen kann auch der Sinn des Reisens im
Besonderen gemeint sein. Die Anstrengung Ithaka zu erreichen, ist mein
Versuch die griechischen Seele zu verstehen. Eine Annäherung
gelingt mir gerade nicht, wenn ich zu möglichst vielen Orten und
Inseln aufbreche. Schnell hätte ich jedes dieser falschen
"Ithakas" erreicht und wäre gleich wieder enttäuscht. Zur
Annäherung an das wirkliche Ziel, nämlich tiefer
einzudringen, von den "Eingeweihten" wieder und wieder zu lernen,
braucht es Zeit und Ortsfestigkeit.
Im Gegensatz zu Odysseus, der durch Versuchungen und
Verwünschungen lange daran gehindert wurde nach Hause zu kommen,
mache ich mich freiwillig auf in die Ferne. In dieser Bedeutungsumkehr
wandeln sich die Lästrygonen
und Zyklopen, die Odysseus zu fürchten hatte, zu Sensationen, die
wir auf unseren heutigen Reisen suchen.
Kavafis Beruhigung "du wirst Ihnen nicht begegnen, wenn deine Seele
sie nicht vor dir aufbaut" weist mich - so verstanden - darauf hin, dass ich mit
vorgefertigten Erwartungsmustern mein Erleben selbst steuere,
möglicherweise mir
aufregende Begegnungen verbaue mit meiner vorweg eingestellten Seele.
Die Bedeutung von Kavafis "solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden, wenn dein Denken
hochgespannt [=erhaben?] ... bleibt" wandelt sich bei diesem Perspektivwechsel zu "...
wenn dein Denken überheblich bleibt"
Tatsächlich steht Herablassung dem Sich-Einlassen auf prägende Erlebnisse im Weg. Wir werden Begegnungen erleben, wenn
wir die Bereitschaft in unserer Seele tragen, uns
von ihnen überraschen zu lassen. Krampfhaftes Suchen würde sie verhindern.
Ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung sagt mir - erstaunlich zeitgemäss - Kavafis' Ithaka-Metapher:
Willst du Griechenland finden, dann bescheide deine
Pläne. Lass deinen Geist ungetrübt von "Must-sees".
Lass dir den Genuss des Eintauchens in die Griechenwelt nicht von deinem nach
Herumhetzen
süchtigen Körper verderben, auch nicht vom voreingenommenen
Urteil über das Unbekannte.
Aber vielleicht verhält es sich genauso wie mit Gedichten: Wir sehen sie so, wie wir sie sehen wollen.
© Klaus Thomas 2008
Ιθάκη - Κ.Π. Καβάφης
Ithaka - deutsche Übersetzung (Wikipedia)
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