O Mikros Kosmos

von Klaus Thomas

Mittags erst aus Griechenland zurückgekehrt gewähren wir unserer nachhinkenden Seele ein wenig Gnadenfrist. Griechischer als in unserer Stammtaverne kann ein Abend in Berlin nicht sein. Der Wirt
Dimitri kann unsere Sehnsucht  nach seinem Land mitfühlen, in dem wir heute morgen noch waren. Er geleitet uns zum letzten freien Tisch. In seiner üblichen kommunikativen Art stellt er uns gleich dem nebenan sitzenden Paar vor und teilt mit, dass wir gerade von Kreta wiedergekommen sind. Manos, selbst Kreter, kann sein Glück kaum fassen, heute Abend noch Tischnachbarn beschert zu bekommen, die für seine Heimat brennen.

Seine Frau, die Berlinerin Nina,  hat er während seines Studiums hier kennengelernt.
Stolz verkündet Manos: "Nina liebt nicht nur mich, sondern auch Kreta"
Vor zwei Jahren haben sie in seinem Heimatdorf geheiratet. Gern würden sie auf Kreta leben, wollen aber zunächst noch einige Zeit ihre guten Jobs in Berlin behalten..

Gleich feuern wir unsere Kreta-Leidenschaft wechselseitig an und geben uns gemeinsam dem Schwärmen hin.

Es stellt sich heraus, dass
das südkretische Kamilari, wo wir vor etlichen Jahren einmal Urlaub gemacht haben, der Nachbarort von Dimitris Heimatdorf ist. Wir ereifern uns wie Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersehen.

Sie tragen sich mit dem Gedanken in ein paar Jahren nach Kreta zurückzugehen, einen Tavernen- und Zimmervermietungsbetrieb aufbauen.

Bald argumentieren wir über die wirtschaftliche Zukunft der kleinen Dörfer.
- Da Landwirtschaft allein nicht tragfähig ist, muss Tourismus entwickelt werden.
- Wieviel Strassen- und Hausbauten vertragen die Dörfer - und die Touristen ?
- Sollte man nicht auf diejenigen Urlauber setzen, die das Traditionelle und Einfache suchen ? - wieviel Familien ernährt das?
- Ist am Schluss die Dorfstruktur zerstört, ohne dass der Tourismus in der erhofften Größenordnung Einzug gehalten hätte?

Für jede Perspektive findet sich ein überzeugendes Beispiel.

Auch die Traditionstouristen, die das ursprüngliche Griechenland suchen, wollen nebenbei auf einer bequemen Strasse anreisen, wollen Kühlschrank und Klimaanlage im Zimmer und verlangen neben der ärztlichen Sofortversorgung für den Notfall einen schnellen Hubschraubertransport ins Krankenhaus.

Da erzähle ich die Geschichte, wie damals bei unserem Urlaub in Manos' Gegend unser Freund Wolle eines nachts plötzlich derartige Bauchschmerzen bekam, dass wir unsere Wirtsleute baten einen Arzt zu holen. Statt eines Arztes, es war keiner unmittelbar verfügbar, entschied unser Vermieter, dass ein Transport ins Krankenhaus nach Heraklion angeraten sei. Umgehend organisierte er einen Neffen mit eigenen PKW, der Wolle in einer Stunde durchs Gebirge zur anderthalbstunden entfernten Hauptstadt an der Nordküste fuhr.  Dort bestätigte sich der Verdacht unseres Vermieters: Der Blinddarm war entzündet und musste entfernt werden. Obwohl schliesslich alles gut verlief, hat es Wolle seitdem nicht mehr nach Griechenland gezogen.

Seltsam angespannt fragt mich Manos, ob ich noch wisse, wo wir damals gewohnt haben.
Ich weiss nur noch, dass sich unsere Pension direkt gegenüber der Bäckerei befand.

"Wann wart ihr dort?"
"Ich kann mich erinnern, dass wir meinen runden Geburtstag dort gefeiert haben - also im Mai 1990"

"Das war das Jahr, bevor ich nach Deutschland ging. Ihr habt bei meinem Onkel Stratos gewohnt. Ich bin der Neffe, der Euch nach Iraklion gefahren hat!" platzt Manos heraus.

Ohne dass wir uns einander erinnern, sind wir uns damals begegnet. Aus Anlass eines entzündeten Blinddarms.
Wie unglaublich!

"Dieses ist wirklich eine wahre Geschichte" sieht sich der Erzähler veranlasst zu versichern und wird wohl dennoch  zweifelnde Leser zurücklassen.

© Klaus Thomas 2008


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