Pou pas? - einfach laufenlassen

von Klaus Thomas

All die Jahre konnte man von Chorió aus nur wenige freiliegende Abschnitte gut erkennen von diesem Monopati (Fusspfad). Vor Generationen angelegt, führt er ansteigend an der meerseitigen Bergflanke entlang, schwierige Steilkanten wurden überwunden durch aus  Natursteinen aufgemauerten Terrassenwegen und Treppen (Kalderimia). Breit genug für einen beidseitig bepackten Esel, war er  die Verkehrsverbindung früherer Zeiten zur Nordspitze der Insel. Dorthin, wo in Reichweite eines halben Tagesmarsches nur eine Siedlung existiert: Ormós. Seit einer Generation wohnt hier niemand mehr, ausser einem Einsiedlerehepaar.  „Der Schäfer und seine Frau“ werden sie genannt. Ihre seltenen Besorgungen im Dorf erledigen sie mit dem Kaiki.

Also verlor der Monopati seine Bedeutung. Sich selbst überlassen wurde er innnerhalb weniger Jahre unpassierbar, da überwuchert, abschnittsweise im Winterregen abgerutscht.

Dieses Jahr nun ist der Kalderimi mit grossem Aufwand restauriert worden.

Spontan habe ich heute entschieden ihn mal in Augenschein zu nehmen. Die Idee kam erst am späten Vormittag, aber warum soll ich nicht ein erstes Wegstück erkunden, nach Laune umkehren. Erste Eindrücke sammeln. Meine Laune schob den Umkehrpunkt jeweils ein weiteres Viertelstündchen hinaus. Noch bis zur nächsten Biegung. Was ist hinter dem Wäldchen? Noch ein Stückchen höher. Noch sensationellerer Ausblick.

triDas war vor fünfzig Metern noch nicht zu erkennen: Hier folgt der Weg nicht der seeseitigen Flanke. Er wendet sich nach links dem Steilhang zu. Wie soll das gehen? Hinter einem Erker wird klar: Ein Felseinschnitt dient als Pass, aber nur weil hier unzählige Feldsteine zur steilen Serpentinentreppe geschichtet wurden. Welch logistische Meisterleistung! Bevor ich mich hinter den Felsvorsprung schiebe, werfe ich einen letzten Blick zurück auf die kilometerlange Bucht mit dem Hafen von Chorió am jenseitigen Ende. Türkise Weite. Tief unten züngeln weiß die Wellen an gelben Stränden. Ich wende mich. Die Berge halten über mir noch einmal mehr Höhe bereit, als ich bisher überwunden habe. Diese mich umgebende Erhabenheit umfasst mein Gemüt. Klein bin ich, aber geborgen. Allein, aber nicht einsam. Ehrfüchtig verharre ich eine lange Weile, die mir so kurz erscheint.

Nach Erklimmen der meerabgewandten Seite des Felsvorsprunges erkenne ich, dass der Weg weiteren Anstieg fordert. Zwanzig, dreißig Meter höher habe ich nicht nur den Blick auf die unter mir liegende Küstenlinie, sondern auch wieder zurück über die gesamte Bucht bis Chorió. Der Abschied von der Sichtverbindung war verfrüht.
Ein weiteres Mal lasse ich mich auf gleiche Weise täuschen, bis schliesslich ein Ausläufer der Hochebene erreicht ist. Hier schützen umliegende Berge vor Seeblicken.

Die längst nicht mehr bewirtschafteten Terrassenfelder sind mit bis zu kniehohen Distelbüscheln (Phrygana) überwuchert. Es gilt dazwischen einen Pfad zu finden. Dabei kann es sinnvoll sein, streckenweise von der Hauptrichtung abzuweichen, ähnlich wie das beim Überwinden von Steigungen hilfreiche Serpentinenlaufen. Auch dabei müssen passierbare Stellen von weitem erkannt werden. Mulis haben übrigens dieses Talent. Traditionell schickt man sie vor und folgt ihnen. An Steigungen finden sie intuitiv den besten Weg.
Im Besitz dieser Klugheit aber ohne Muli finde ich selbst meinen Weg. Immerhin ein wenig Erfahrung im Pfadlesen habe ich im Laufe der Jahre gesammelt. Mitunter versteige ich mich dennoch und muss einen Irrweg rückgängig machen.
Am Ziel angekommen wird spätestens klar, dass auch die Irrtümer wichtige Bestandteile des Erlebnisses  sind.

Derartiges lässt sich gut beim Laufen philosophieren. Wandern nach Satelliten-Navigationssystem würde mir den Genuss nehmen. Mir kommt der gestrige Tischnachbar in den Sinn, der befriedigt mitteilte: „Jetzt gibt es die Wanderung durch die Schlucht als GPS-Datei“

„Oh wirklich ...“ ironisierte ich „ ... dann braucht man die Wanderung ja gar nicht mehr machen“.
Unbeirrt schilderte er mir seine Neigung zur präzisen Vorausplanung des gesamten Urlaubs inklusive Internet-Recherche, Telefonate und Mail-Korrespondenz mit Zimmer-, Autovermieter und Fähragentur.

„Das würde in der Vor-Urlaubszeit meiner Griechenlandsehnsucht helfen ...“ warf ich ein „ ... stiehlt mir aber vor Ort manche Glücksmomente, die mich nur überraschen, wenn ich das Ungeplante riskiere.“
 Ich verstehe seine Neigung zum Vorsehen, nur ihm meinen Genuss am ungeahnten Erlebnis nahezubringen gelingt mir nicht.
 „Ich möchte doch nicht  meine kostbare Urlaubszeit mit der Suche nach einer Unterkunft oder einer Verkehrsverbindung vergeuden“ wehrte er verständnislos ab.
Ja, was dem einen seine Vergeudung ist dem anderen sein Gewinn.

Mittlerweile bin ich etwa drei Stunden unterwegs. Fünf bleiben bis Sonnenuntergang. Im Dunkeln ist mir die Gefahr von Verirrung und Fehltreten zu groß. Mir bleibt also höchstens eine Stunde bis zum unbedingten Umkehren.

Nach Querung einiger Hügel geht es wieder abwärts. In der Ferne sehe ich ein Gebäude. Müsste zu Ormós gehören. Ich bin neugierig auf einen Blick über die ganze Bucht. Noch ein paar Schritte abwärts werden gelohnt von weiteren in Sicht kommenden Häusern, einer Kirche. Im Scheitel der langgezogenen Bucht reihen sich auf der Nordseite circa ein Dutzend Gebäude. Ein heimeliger Anblick.
Nun will ich aber wirklich umkehren.

schaeferPlötzlich steht er vor mir: Geschultertes Gewehr, derbe dunkelblaue Leinenhose, leuchtend rote Sneakers. Das muss er sein, der Schäfer von Ormós, heute offensichtlich als Jäger unterwegs. „Jassu, pu pas?“ (Hallo, wohin gehst du?) will er wissen.
Ich nutze die Gelegenheit, um mehr über den  inselinneren Alternativweg zurück nach Chorió zu erfahren, von dem ich gehört hatte.
Er erklärt mir, dass ich dafür ganz runter und etwa hundert Meter entlang der Wasserlinie müsste. An der linken Seite der Bucht vor einem Kirchlein beginnt der Pfad. Insgesamt würde man ungefähr vier Stunden brauchen.
Demnach wäre das eine gleichrangige Rückwegalternative für mich, die immerhin neue Eindrücke böte. Hingegegen ist zu bedenken, dass meiner Erfahrung nach, Einheimische die Wegdauer verkürzend schätzen. Wie ich in der Karte gesehen hatte, wird zunächst eine eingermassen steile Hügelkette überwunden und dann die langgezogene inselinnere Hochebene durchquert.
Er interpretiert mein Nachdenken richtig „Vier bis viereinhalb Stunden, wenn du schnellgehst“ legt er nach.
Beim Verabschieden, ringe ich mir doch die Frage ab, ob ich ihn fotografieren dürfe. Sofort steht er in Pose. Welch imposante auch pittoreske Erscheinung.
Dann erscheint ihm das honorarfreie Modellstehen doch zu freigiebig: „Du hast ein Foto, aber was habe ich?“ Er akzeptiert mein Angebot, ihm einen Abzug zu schicken. Ich krame Notizheft und Stift heraus, biete es ihm unsicher dar, zweifelnd ob seiner Schreibkundigkeit. Ohne zu zögern greift er zu, als wolle er stolz demonstrieren, dass Analphabetismus zum nostalgisch touristischem Zerrbild gehört. In grossen, ebenmässigen Lettern setzt er seinen Namen, darunter die Anschrift „Ormós - postlagernd Chorió“. Dort müsse er seine Post abholen, erklärt er. Der Zusatz „Ormós“ ist trotzdem wichtig, zur Unterscheidung. In Chorió lebt ein Cousin gleichen Namens.

Es gilt also abzuwägen: Vorausgesetzt die Zeitangabe des Schäfers ist einigermassen realistisch, so wäre die Route durch das Inselinnere nicht wesentlich länger als der Weg, den ich hergekommen bin. Wobei Zurückgehen natürlich langweiliger wäre als das Erlaufen neuer Eindrücke. Ich lasse das Unbekannte gewinnen. So gehe ich also zunächst runter zur Siedlung. Bestimmt kann ich hier an einem Brunnen meinen Wasserproviant auffüllen. Jetzt erst, wenige Meter entfernt, bemerke ich die im Garten ihres Hauses hockende Frau, gerade dabei Gemüse zu schnippeln, wohl die Beilage zu dem, was ihr Mann vor die Flinte bekommt.
buchtNach Erbieten des Grusses ist auch sie an Herkunft und Vorhaben des Fremden interessiert. Statt mir die Lage des Brunnens zu beschreiben, erhebt sie sich mühsam und schlurft schwerfällig ins Hausinnere zu einer Wasserkaraffe. „Probleme mit den Beinen“ erklärt sie. Dennoch lässt sie es sich nicht nehmen mir noch einen mehr als hinreichenden Brocken Dauerbrot (Paximadi) und ein Stück Feta zu bringen. „Als Proviant“. Sie weiss wirklich um des Wanderers Genuss. Ich bedanke mich herzlich. „Paximadi mit Wasser versetzen, dann wird es weich“ rät sie mir noch bevor sie mir einen guten Weg wünscht.

Während des Davonstapfens hängen meine Gedanken ein Weile zurück: Ob dieses Einsiedlerleben wohl eher sein gelebter Traum ist und sie eher pflichterfüllend folgt? Diese Begegnungsmomente, die ich mit den beiden tapferen Leuten haben durfte, lassen spekulieren.

Mein Weg führt mich zunächst durch das verlassene Dorf. Am Fuß der Berge, so hat man damals gewohnt, im gebührendem Abstand zu dieser fast geschlossenen Bucht, die den Fischern als ideal geschützter Anlegeplatz diente.
Vom Dorf pendelt sich kilometerweit ein Kalderimi den Berg hinauf. Bis zu hundertmeterlange Gerade wechseln mit Spitzkehren, oft als Stufen  aufgemauert. Nicht nur die Steigung dieser Himmelstreppe auch die zunehmend überwältigende Aussicht, bald auch auf die vorgelagerte Insel, nehmen den Atem.
Schließlich öffnet sich vor mir eine langgestreckte Hochebene. Hier weitet sich der Pfad zur befahrbaren Staubpiste. Offensichtlich werden zwischen den brachliegenden Flächen einzelne Felder bewirtschaftet, auch Imkerei findet statt. Die Bienenstöcke können mit dem Auto erreicht werden. Wäre ich jetzt ausnahmsweise bereit die Wanderehre preiszugeben und eine Mitfahrgelegenheit zu nutzen? Diese Gewissensfrage braucht mich nicht weiter zu belasten. Niemand hat sich heute hierher zur Feldarbeit aufgemacht. Ich folge also auf eigenen Füßen dem Fahrweg, der sich mit dem S-förmigen Tal durch die Berge schlängelt. Die flächige Talsohle geht  beidseitig in zunächst sanfte, dann immer schroffere Steigung über. Die Gipfel der Ostseite strahlen orange in der hier unten nicht mehr sichtbaren Sonne. Die Ebene liegt in feinem Streulicht. Der Genuss dieser friedlichen Stimmung wird durch das zunehmende Gewicht meiner Beine gemindert.
Bei nahender Dämmerung lege ich noch Tempo zu. Dennoch muss ich die letzten zwei Kilometer in Dunkelheit überwinden. Obwohl mir dieses Wegstück sehr vertraut ist, taste ich mich hochkonzentriert über die unebene Piste. Noch eine halbe Stunde bis Chorió. Jenseits des Wäldchens der Lichtschein des Hafenortes. Er blendet, wirft irritierende Schatten, erschwert das Erkennen der Pistenbuckel.

Meine Beine lassen sich nur schwer überreden, mit mir zu Marias Kafenion zu kommen. Mit umgebremsten Plumps bringe ich den Holzstuhl auf der gemütlichen Terrasse am Kieselstrand zum ächzen. Welch ein Genuss kann so ein griechischer Kaffee sein, mit einem Schluck Quellwasser nachgespült. In der schwarzen Weite, irgendwo dort wo Himmel und Meer sich treffen, fixiere ich fasziniert ein Licht. Schiff oder Stern?

Maria ist erstaunt, dass ihre Frage "Wo warst du heute?" weit weg führt von ihrer am Morgen gestellten Frage "Wohin gehst du heute?"

Ich habe mir die Freiheit genommen, Richtungsentscheidungen erst unterwegs zu treffen und wieder einmal bin ich überwältigt von den Eindrücken, die mich überraschten.

© Klaus Thomas 2008


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