Sfakia - Innenwanderung

von Klaus Thomas

aradenaVon ihrer meerseitigen Öffnung laufen wir über Strandkiesel in die Arádena-Schlucht hinein. Die steilerwerdenden Wände sind bald auf gefühlte hundert  Meter angewachsen.
Man braucht keine Religiosität um
ehrfürchtig zu werden angesichts der sich überdimensional aufbauenden Flanken dieses gewaltigen Gebirgseinschnitts, auf dessen schmalem Grund wir uns überwältigt fühlen. Die Schritte knirschen hallig.  
Eine Schluchtwanderung ist schattig und orientierungssicher. Nur bei dem haushohen Katarakt, das es zu erklettern gilt, sind die geeigneten Passagen zu finden. Die wohlgemeinten Markierungen sind gelegentlich wiedersprüchlich. Hinter der Biegung ein gewaltiger Geröllabrutsch, der mühelos hätte ein Mehrfamilienhaus unter sich begraben können. Hier ein riesiger im Schluchttrichter verkeilter Felsbrocken, der irgendwann einmal herabgedonnert ist. Dort ein furchteinflössender Überhang, von dem bei nächster Gelegenheit weitere Abbrüche zu erwarten sind; bei starkem Regen vielleicht, oder bei Erdbeben? Die auftürmenden Wände verschmälern das Sichtfeld auf den Himmel.

Schweigend ergeben wir uns der Wirkung dieses optischen Gegensatzes von gewaltiger Grösse und Leichtigkeit. Ich lasse die Erinnerung an die beiden Hamburger zu, die gestern abend schwärmend ihre Samariá-Wanderung beschrieben, sie sagten "San María"
. Faszinierend wie unterschiedlich Erlebnisse bewertet werden, mehr noch wie unterschiedlich das vermeintlich Gleiche erlebt wird. Dem Einen Genuss, des Anderen Greuel. Ist es womöglich die Ausnahme, am selben Ort zur selben Zeit dasselbe zu erleben? Das griechischstämmige Wort "Sympathie" kündet von gemeinsamen Leiden, mehr im Sinne von "Leidenschaft" und "etwas leiden können". Gerade in der Samariá-Schlucht war unser Genuss begrenzt, angesichts des Menschengewimmels. Die schiere Länge ist kein Wert an sich, treibt lediglich zur Hast. Der Superlativ "längste Schlucht Europas" bewirkt nur übertriebene Popularität.

Superlative werden überschätzt. "Am südlichsten Punkt Europas zu sein" wäre nichtssagend, wenn ich demgegenüber die Beobachtung machen könnte: "Am südlichsten Punkt Europas habe ich vor Gedrängel von Superlativjägern keine Ruhe zum Verweilen, Fühlen und Nachdenken gefunden" und vielleicht würde mir in einem nahegelegenen Kafenion ein Einheimischer nach einer Weile erzählen, dass er nicht versteht, warum so viele Menschen hierher hetzen, ruhelos ohne Bewusstsein für den Ort. In ihrer Ratlosigkeit dasselbe tun, was andere tun: Sich in der immer selben Pose fotografieren lassen und viel zu schnell wieder entfliehen. Verstehen kann er dieses Phänomen nicht, ist aber sehr dankbar dafür, sichert es doch dem Dorf das Überleben. Ähnlich kurioses Verhalten ist vielerorts im Umfeld sogenannter Sehenswürdigkeiten zu beobachten, die gerne als "ein Muss", "einfach schön" oder "Genuss pur" apostrophiert werden. Mein persönlicher Favorit  ist der Begriff "ein Geheimtipp".

Die beiden Hamburger 
deklarierten ihre San-Maria-Wanderung als Höhepunkt ihres Urlaubs. Doch war eher von erlittenen Strapazen als von Genuss zu hören. Der Widerspruch zwischen Erzähltem und dem daraus gezogenen Fazit fiel ihnen nicht auf. Wieder einmal hatte ich den Eindruck, manche Miturlauber geniessen weniger das Erleben als das Erzählen darüber.
Ich stelle mir vor, wie die Eignung zur sprachlichen Zweitauswertung die Entscheidung für eine bestimmte Urlaubsaktivität beeinflusst.

aradene_aufstieg Mir ist die Inszenierung des nacherzählten Erlebnisses und der daraus zu ziehende Genuss nicht unbekannt. Ist nicht häufig die schriftliche Form noch inszenierter und genussvoller als die mündliche? Ist gar das Jetzt-Hiersein weniger Wert als die nachträgliche Aufarbeitung?
Nein! Solange ich solche Kraft aus dem primären Wahrnehmen schöpfe, ist die Balance garantiert. Davon bin ich in diesem Moment überzeugt. Der eitle Sekundärgenuss meiner Erinnerung bleibt weit dahinter zurück.

Nach einer anderthalbstündigen Wanderung weitet sich das Himmelssichtfeld. Die östliche Flanke gibt ihre Senkrechte einer  steilen Neigung preis. Kurzentschlossen nutzen wir die Möglichkeit zum Aufstieg. Mit unserem Schweiss zollen wir der vertikalen Dimension dieser Schlucht Respekt. Die jenseitige Wand gibt der Neigung ihres Gegenübers nicht nach und hält sich senkrecht. Nicht zu steil für vereinzelte Bäumchen, die das Kunststück beherrschen in dieser rotleuchtenden Vertikale zu wurzeln.

geier Die Thermik der Kante nutzend zieht ein Geier weite Spiralschleifen. Oben an der Wand findet er eine Nische zur kurzen Rast. Wie seine paar Artgenossen hier in der Gegend hat er kein Problem damit, obwohl häufig als Adler bezeichnet, einfach Geier zu sein. Auch der kluggemeinte Hinweis, wenn es Geier wären, müssten sie die gelegentlich in der Schlucht verendeten Ziegen holen, lässt Geier nicht an ihrer Identität zweifeln. Interesse am Ziegenaas hätten sie wohl, allein ihre Klugheit hält sie davon ab, sich dem Schluchtboden zu nähern. Starten wäre von dort schwer möglich.   

Erst jetzt am Ende des Aufstiegs, kurz vor Erreichen des Hochplateaus, haben wir die erste Begegnung unserer heutigen Schluchtwanderung. Ein Paar, das die gleiche Route in entgegengesetzter Richtung machen will. Obwohl sie bisher in der prallen Sonne unterwegs waren, ist er mit nichts als Wanderschuhen und knapp-sitzenden Shorts bekleidet, während sich seine Begleiterin mit knielangen Hosen, bedeckten Armen und einem Hütchen gut gegen Sonnenstrahlung schützt. Sie scheint die Gelegenheit zu begrüssen, jemanden sehr genau nach dem Verlauf des Abstiegspfades befragen zu können. Neben ein paar Hinweisen, geben wir insbesondere den Rat, den jeweils in den Kehren angebrachten roten Farbpunkten zu folgen. Er kann nicht nachvollziehen, dass wir zwei gemütliche Stunden gebraucht haben, könnte man diese Wanderung doch in einer Stunde schaffen, wie ihm versichert wurde.

bucht Nach Überquerung des geneigten Plateaus erreichen wir das nahezu verlassene Dorf Livanianá. Die teilweise verfallenen Gebäude mit den überwucherten Gassen dazwischen wirken auf mich eher beruhigend als unheimlich. Nur das Kafenio ist in Betrieb, nach längerer Pause erstmalig in dieser Saison. Manch müdem Wanderer, so auch uns ein entspannender Rastplatz. Beim Blick über Felsen und brachliegende Felder hinab zum weitgeschwungenen Rund der Bucht wird einem die Seele leicht. Wir inhalieren die magische Stimmung diese Ortes.
 
Das Gespräch zweier sich hier zufällig getroffenen Wanderer ist nicht zu überhören:
- Schön, dass es diese alten Wege gibt.
- Das waren halt früher die einzigen Verbindungen überhaupt.
- Ja, aber toll, dass es sie immer noch gibt.
- Na ja, manche Abschnitte sind leider durch Erdrutsche zerstört oder müssten wenigstens mal von Geröll befreit werden.
- Das ist ja eine enorme Leistung gewesen diese Wege damals anzulegen. Teilweise regelrechte Natursteintreppen.
- Diese angelegten Wege heissen Kalderimia.
- Ich liebe es, darauf zu wandern.
- Nur diese bunten Farbkleckse zur Markierung sind ätzend. das gab's früher nicht.
- Ich find' die toll. Konnte ich mich oft dran orientieren.
- Ja, aber das könnte man doch besser machen.  Schöngeschnitze Holzmännchen als Wegweiser zum Beispiel. das wär was.

Nicht viel später finden sich zwei neue Gäste ein auf der Veranda dieses mystischen Lokals. Es sind unsere beiden Entgegenkommer, die ihre Wanderpläne offenbar geändert haben und umgekehrt sind. Noch im Stehen geben sie ihre Bestellung auf: "One greek salad and two beer." Erst nachdem wir sie neugierig ansprechen, erkennen sie uns wieder. Gleich rechtfertigt er ihre Umkehr. "Der Abstieg ist ja lebensgefährlich Wie leicht kann man auf dem Geröll ausrutschen und sich verletzen? Handynetz gibt's auch keins - da kann man noch nicht mal Hilfe holen." Sie sekundiert: "Ich könnte ja Kalle gar nicht tragen, wenn er sich den Fuss bricht." Kein Zweifel, Kalles massiger Körper gestützt auf ihre Zierlichkeit hält schon in meiner Vorstellung nicht stand. Sie nehmen am Nachbartisch Platz. Kalle zieht sich auch in einem Lokal kein T-Shirt über. Wie wir in den nächsten Tagen beobachten können, wird Kalle auch beim Abendessen den direkten Blick auf seinen behaarten Oberkörper durch nichts verdecken. Ästhetische Gründe liegen dafür nicht vor. Möglicherweise hat er alle seine Hemden zuhause vergessen. Im gedanklichen Lästern vergesse ich nicht, dass manchem Griechen die allgegenwärtigen aus kurzen Hosen hervorgestreckten nackten Männerbeine ähnlich unverständlich, gar unangenehm erscheinen.

Kalle wiederholt seine Behauptung, dass es
unverantwortlich sei, diesen Schluchtabstieg jemanden zu empfehlen, aufwärts wäre es vielleicht ungefährlicher. Nachdem ihm alle Anwesenden versichern, dass sie hier schon mehrmals abgestiegen sind und bei entsprechender Vorsicht der Abstieg nicht prinzipiell gefährlich sei, erklärt Kalle jetzt, dass sie hauptsächlich wegen seiner Frau umgekehrt sind, die "... ein bisschen Höhenangst hat, nicht wahr, Martina?". Martina hat kein Problem diese überraschende Erklärungsvariante abzunicken.

Ich schaue zur Insel Gavdos, mit ihrem jenseitigen "südlichsten Punkt Europas" und darüber hinaus. Während ich mich am öffnenden Blick über das weite Libysche Meer labe, gestehe ich ein, dass auch ich die Taktik
'Bauchentscheidungen, nachträglich rational verkleiden' wohl häufiger anwende, als mir bewusst wird. Unterliege ich dabei auch der Versuchung die Verantwortung auf eine andere Person zu schieben? "Hoffentlich nicht zu oft" denke ich, während ich schmunzeld zu Margit rübersehe.

© Klaus Thomas 2009
 

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