Sougia - gereifte Sehnsucht

von Klaus Thomas

Ich konnte nicht ahnen, wie sehr ich während dieser knappen Woche Sougia in meine Vergangenheit geführt werde. Süsse Erinnerung aber auch kritische Infragestellung dessen, was wir vor 30 Jahren als sensationelle Selbstdarstellung zelebrierten. Nie zuvor war ich in diesem Ort, spüre hier aber den Geist, den wir damals in sehr ähnlicher Weise beschworen, wenn auch in einer viele Kilometer entfernten südkretischen Bucht. Freicamper suchen sich hier in den Dünen eine möglichst sonnengeschütze Schlafstätte. Prominenter ist der Gemeinschaftslagerplatz unter einer Baumgruppe direkt auf dem Strand. Einen sehnsüchtigen Moment lang sehe ich mich bei ihnen, bis mir die Altersdifferenz bewusst wird, die sich zwischen mich und  jene Erfahrung geschlichen hat. Vielleicht wäre mir mittlerweile die Benutzung der Klodüne auch zu mühsam, womöglich nächtens. Schnell finde ich Argumente gegen dieses Wildcampen. Ohne Verabredung sind die Ausscheidungen unter unnötig vielen Sträuchern verteilt, jeweils mit weissen Fähnchen benutzten Klopapiers markiert. Das Sammeln des Mülls und dessen Entsorgung in die Gemeindemülltonne scheint immerhin zu klappen. Sollte sich diesbezüglich der Schlendrian einschleichen, bekämen die Wildcamping-Gegner weitere Argumentationshilfe.

Wie damals kann ich mich mühelos in den Genuss hineinfühlen, ein paar Tage, womöglich Wochen, in einiger Entfernung zu den konventionellen Strukturen zu leben. Natürlich haben wir auf diese Weise Übernachtungskosten gespart, weit mehr gewannen wir glückliche Momente.
Unter den Freaks - heissen die heute noch so? - scheint sich ähnlich wie damals eine Hierarchie gebildet zu haben. Nur wird die heutige Szene von griechischen Jugendlichen dominiert, während es zu jener Zeit kaum griechische Miturlauber gab. Nordeuropäer schwangen sich zu Platzhirschen auf, wahrscheinlich auf einem lächerlich niedrigen Kenntnisniveau von Mentalität und Sprache. Wir glaubten auf der Suche nach dem "wahren Griechenland" zu sein. Vielleicht gelang es, in seltenen Momenten, ein wenig uns selbst zu finden. 
Heute akzeptieren selbstinszenierte
Griechenversteher aus Deutschland und den Niederlanden, dass die vorderen Rangplätze von Inländern besetzt sind. Inländer zwar, aber dennoch Fremde. Es sind Stadtkinder, die sich von der Exotik des Dorfes faszinieren lassen. Das lässt mich wiederum interessante Parallelen erkennen:  Als Jugendlicher bin ich aus der Enge sozialer Kontrolle der deutschen Provinz in die Großstadt geflohen. Die Begeisterung für die Grenzenlosigkeit war bald durch das Erleben der damit einhergehenden Anonymität getrübt. Ist es eine späte Wertschätzung von sozialer Kontrolle, aber eben auch Wärme, die meine Griechenlandsehnsucht befeuert, eben vorrangig eine Sehnsucht zum Dorfleben?

Wie damals ist der Coolness-Faktor ein wichtiges Hierarchiekriterium. Auch dabei liegen die Griechen vorn. Ich meine, zwischen griechischen und ausländischen Freaks eine gewisse Distanziertheit zu erkennen. 

Wie ich so am Dünenfuß sitze, interessiert die Szene beobachte und mein jetziges Empfinden mit dem erinnerten Gefühl von damals abgleiche, werden mir drastisch zwei definitive Neuerungen des Wildcampens vorgeführt: Mobiltechnik und Dialekt. Wenige Meter  entfernt, vor seinem Zelt sitzend, lässt lautstark ein östlicher Landsmann
- dank Handy - seine Liebste daheim und mich an seinem Erleben und seinen Sprachkenntnissen teilhaben: "Golliemäro, I liesch hior innor Sunne vuun Krähtoh - In Suckio - Nuu - Härlisch!"

© Klaus Thomas 2009
 

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