Jenseits der Weissen Berge

von Klaus Thomas

Quer vor dem Wartehallenausgang parkt ein Bus mit der Fahrtzielanzeige "Chora Sfakion". Genau zu diesem Ort an der kretischen Südküste zieht es uns. Im Schatten des Busses können wir also bis zur Abfahrtszeit entspannt auf unseren Rucksäcken Platz nehmen. So haben wir zwar keine Sicht auf das Ankomm-, Abfahr- und Rangiergewusel des Busbahnhofs, fühlen uns aber auch ein wenig geschützt vor der stinkenden und hupenden Hektik. Dieser Bus wird uns um 12 Uhr nach Chora Sfakion chauffieren. Was soll da schiefgehen?

Auch im ausgeglichensten Griechenimitator
regt sich ein wenig Unruhe, wenn  fünf Minuten vor angeblicher Abfahrtszeit die Gepäckladeklappen immer noch nicht geöffnet sind und auch noch kein ungeduldiger Passagier zu sehen ist. Also ist es an mir, den Ungeduldigen zu geben und am Ticketschalter nachzufragen. Geduldig wird ganz privat für mich die Ansage wiederholt, die ich jetzt erinnere, in den letzten Minuten ein paarmal aus dem quäkenden Lautsprecher gehört zu haben: "Chora Sfakion dodeka - Chora Sfakion twelve". Schlagartig wird mir die Bedeutung dieser Zahl klar: Gemeint ist ein Bus mit der Nummer 12. Der quergeparkte, von uns erkorene hingegen trägt die 20 an seiner Frontscheibe und fährt vielleicht irgendwann nach Chora Sfakion, sicher aber nicht heute um 12 Uhr. Ich suche mal hektisch den weitläufigen Betriebshof ab und entdecke am jenseitigen Ende die zur Abfahrt bereitstehende Nummer 12.
Meine Hektik hat niemand der bereits vollständig eingestiegenen Passagiere bemerkt, die möglicherweise unsere nachgemachte griechischen Gelassenheit gelten lassen, als wir gepäckbeladen in letzter Minute auftauchen. Oder sie
halten uns schlicht für Schnarcher.

Gleich unterzieht uns der Fahrer der üblichen Prüfung. "Pou pate?" Nachdem wir unser Fahrtziel identifizierbar aussprechen können, dürfen wir das Gepäck verstauen. Trotz  wiederholtem Hinweis können wir immer noch nicht glauben, dass auch unser Handgepäck in den Laderaum soll. "Warum ?" - "Jemand hat im Daypack eine Bierflasche
mitgeführt, die ausgelaufenen ist ..." erklärt uns der Busfahrer immer noch aufgebracht über das Malheur "...Polster und Teppichboden des neuen Pullmans wurden versaut"  . "Wir haben kein Bier dabei, aber Wasser, das wir auf der stundenlangen Fahrt brauchen, genau wie einige andere unverdächtige Gegenstände". Ja, Wasser dürften wir natürlich mit in den Innenraum nehmen und Kartenmaterial auch und Lesebrille und Sweatshirt (gegen kühlende Aircondition)  und  ... und ...  - aber eben auf keinen Fall unsere Tagesrucksäcke. Also packen wir deren gesamten Inhalt kurzentschlossen in Plastiktüten um und verstauen zwei leere Hüllen im Laderaum, ganz zur Zufriedenheit des Aufpassers.

"Wie stolz sie noch sind, auf die aus Anlass der Olympischen Spielen angeschafften Reisebusse..." denke ich, während wir mit unseren vollgepropften Plastiktüten einsteigen "...eine ausgelaufene
Bierflasche beschwört gleich die Erinnerung an die verschlissenenen aber immerhin robusten Alt-Gefährte herauf und führt dann zu dem überzogenen Reflex, jegliches Handgepäck zu verbieten. Aber ein geschmeidiges Abrücken von der Massnahme ist schnell möglich, wenn deren Nichtdurchführbarkeit offenbar wird. Zurück bleibt,  zwecks Gesichtswahrung, entsprechend unserer Tagesrucksäcke im Gepäckraum, eine leere formale Hülle. Das hat Charme, finde ich.
Vielleicht wollte er auch nur mal einzeln vorgeführt bekommen, was wir so alles mit hineinnehmen möchten, oder er bevorzugt grundsätzlich Plastiktüten? Ich merke, wie ich mit meiner Suche nach einer logischen Begründung weit jenseits griechischer Verhaltensweisen hinausschiesse.

Nach Umrundung der Askifou-Hochebene schlängelt sich die Straße zwischen den südlichen Gipfeln der Weissen Berge hindurch. Dann die Sensation: Lange vor Ankunft öffnet sich der Blick zum Lybischen Meer. Auf dem Plateau östlich der Weissen Berge sind einzelne Siedlungen zu erkennen. Man muss sich ein wenig konzentrieren um das Kastell von Frangkokastello zu finden. Das Serpentinenpendeln des Busses erzwingt nach wenigen Blicken die synchrone Drehung aller Köpfe auf die jeweils andere Seite. Viel langsamere Seitenwechsel als auf der Tennistribüne. Auch anders als beim Ballspiel werden hier die Zuschauer bewegt und nicht das beobachtete Objekt.
Wieder dreht sich der Bus in die nächste Haarnadelkurve. Das Panorama des weiten Küstenstreifens wird dem Blick entzogen, um gleich rechterhand weiterer kurzer Bewunderung zur Verfügung zu stehen.

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Alle Köpfe haben die links-rechts-Drehung ausgeführt, alle Köpfe bis auf zwei. Die beiden Herren in der Reihe vor uns ziehen die Theorie der Praxis vor. Kurz nach der Abfahrt haben sie sich als seelenverwandte Attraktionssammler kennengelernt und sind seitdem in den Austausch schon "gemachter" oder noch "mitzunehmender" Orte, Berge und Schluchten vertieft. Dem unfreiwilligen Zuhörer können bei diesem "Machen" und "Mitnehmen" Zweifel an der früheren und zukünftigen Existenz von Reisezielen beschleichen. Da sich die beiden Spezialisten nicht an alle Namen erinnern, muss häufig im Reiseführer nachgeschlagen werden. Ansonsten sind sie in die komplett aufgefaltete Kretakarte vertieft.
Während wir an der tief eingeschnittenen Imbrosschlucht entlangfahren, erzählen sie sich gegenseitig, dass sie diese schon durchwandert haben. Dabei ziehen sie den Blick in die Karte dem Schauen aus dem Fenster vor. Wir bevorzugen die überwältigende Ansicht des Originals.
 
Diese Serpentinenstrecke wird in einem beachtlichen Bauvorhaben entschärft durch abschnittsweise Fahrbahnverbreiterung, Verkürzung mancher Spitzkehre, an wenigen Stellen sogar Durchtunnelung des Felsens. Das verspricht Fahrerleichterung nach Abschluss der mehrjährigen Bauarbeiten. Solange schafft es zusätzliche Behinderung. Wie anders kann der Schaufellader den Kipplaster mit abgesprengten Felsbrocken beladen, als unter minutenlanger Sperrung der Fahrbahn?

Wir nähern uns einem Ort, den wir zuletzt vor beinahe drei Jahrzehnten gesehen haben. Damals hatte das von Abwanderung und Leerstand gezeichnete Chora Sfakion Hoffnung auf den gerade aufblühenden Tourismus gesetzt. Jetzt bleibt kein Zweifel, dass die Chance zur Wiederbelebung genutzt wurde. Der Dorfeingang empfängt uns weit vor der damaligen Bebauungsgrenze. Stolz hat sich die Siedlung den Hang hinauf ausgedehnt. Es gibt kaum etwas wiederzuerkennen. Selbst grobmaßstäbliche Erinnerungsfragmente versagen. Die felsige Nachbarbucht ist dem neuen Hafen gewichen. Eine Badebucht samt Strand wurde künstlich angelegt. Dort die kleine Bootsliegestelle; war das nicht damals der Hafen? Richtig, und das kleine Stückchen Strandstrasse, zusammen mit der abzweigenden steil ansteigenden Gasse bildet unverändert den Ortskern.
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Schnell bekommen wir einen Überblick der Quartiermöglichkeiten. Wir nehmen uns ein Zimmer bei einem sehr freundlichen griechisch-deutschen Vermieterehepaar. In unserer Bemühung, die Landessprache zu lernen, bevorzugen wir zwar meist  Wirte, die unsere Muttersprache nicht sprechen. Man kann mehr lernen, ohne die Versuchung, bei Verständigungsschwierigkeiten auf das Bequeme auszuweichen. Aber diesmal überwiegt der symphatische Eindruck dieser Pension. Auch zeigte unsere Kölner Vermieterin, die seit acht Jahren hier lebt und die Sprache beherrscht, sehr viel Geduld mit unseren Formulierungsversuchen. Sie bleibt ihrerseits sehr diszipliniert im Griechischen, auch wenn wir erst nach mehreren Wiederholungen verstehen.
Im Erdgeschoss betreibt der Bruder unseres Vermieters zusammen mit seiner niederländischen Ehefrau eine Taverne. Diese freundliche Grossfamilie bietet nicht nur eine ansprechende Rundumversorgung der vordergründigen  touristischen Bedürfnisse wie Unterkunft und Verpflegung, sondern vermittelt uns auch ein tiefes Wohlgefühl.
Trotzdem wird schon am zweiten Tag klar, dass der zimmervermietende Teil der Familie nicht mit dem tavernenbetreibenden Bruder und dessen Frau spricht, nicht einmal den weitläufigen Tavernenbereich betritt. Auf unser vorsichtiges Nachfragen wird offen erklärt, dass es  tatsächlich einen Zwist gibt. Wiederholte Anfeindungen zwischen den beiden eingeheirateten Frauen hätten dazu geführt, sich besser aus dem Weg zu gehen. Zwischen den so verschiedenen Charakteren zu vermitteln, ist wohl den Ehemännern bisher nicht gelungen. Jeder steht aber zu seiner Frau, so dass auch die Brüder Distanz zueinander halten.  (Nur die sechsjährige Tochter unserer Vermieter geht gelegentlich auf der Terrasse des Lokals spielen und wird von Onkel und Tante sehr liebevoll umhegt.)
Für das laufende Saisongeschäft ist dieses Moratorium sicherlich besser als häufige lautstarke Auseinandersetzungen. So wie es klüger ist, aus dieser Sich-aus-dem-Weg-gehen-Strategie kein Geheimnis machen zu wollen. Ohnehin wird es jeder bemerken, der genauer hinschauen möchte.
Es kann keine Überraschung sein, dass an dem Ort, den wir als Projektionsfläche unseres träumerischen Wohlfühlens zweckentfremden, normale Menschen in ihrer alltäglichen Wirklichkeit leben. Bemerkenswert wäre lediglich die Fähigkeit unseres Bewusstseins derlei Banalitäten selektiv auszublenden, normalerweise drei Wochen lang. Bemerkenswert ist auch, welchen Raum eine derart entdeckte Disharmonie einnimmt in den Gesprächen von uns erholungssuchenden Ausblendern. Das Thema ist direkt in den Mittelpunkt des Bewusstseins gerückt. Da schlägt ein selbsternannter Mediator kurzerhand vor, gleich mal den streitenden Parteien ein klärendes Gespräch anzubieten. Auch ein schlichterer Einwand ist nicht zu abgedroschen, um geäussert zu werden. "Das hätte doch früher der sfakiotische Mann ruck-zuck mit einem Machtwort geregelt."
Wieder einmal zeigt sich, dass eine jede Reise auch der Selbstsuche dient. Sollte man sich dabei diesem Ziel nur annähern, gar ein wenig Selbst finden, hat sich der Urlaub wieder einmal gelohnt, oder?

Jedenfalls wünschen wir unserer Wirtsfamilie, dass an einsamen langen Winterabenden eine Annäherung, vielleicht eine Lösung gefunden werden kann.

© Klaus Thomas 2008
 

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